Balance – warum Gleichgewicht mehr ist als still stehen
- Sarah-Maria Eichenauer

- 30. Juli
- 4 Min. Lesezeit
Es gibt diese Yogamomente, in denen wir wortwörtlich ins Wanken geraten: Das Standbein zittert, der Blick ist unfokussiert, der Atem wird plötzlich hektisch, und ehe man sich versieht, landet man mit einem Fuß auf dem Boden statt in der Haltung. Willkommen im Baum, Halbmond oder Tänzer.
Balance im Yoga fordert uns oft heraus. Nicht nur körperlich, sondern auch mental. Denn wir merken schnell: Stabilität ist kein Zustand, den wir einmal erreichen, sondern ein ständiges Austarieren. Ein Sich-Wieder-Zentrieren. Ein Spiel zwischen Halten und Loslassen, zwischen Kraft und Weichheit.
Und genau deshalb ist Balance mehr als nur eine körperliche Übung.
Balance ist nicht starr – sie ist lebendig
Im Alltag denken wir bei Balance oft an Gleichgewicht: zwischen Arbeit und Freizeit, Anspannung und Entspannung, To-dos und Me-Time. Doch Balance fühlt sich selten wie ein exakter Zustand an. Meistens ist sie ein Prozess. Etwas, das wir immer wieder neu finden müssen.
Kaum läuft mal alles gerade wie am Schnürchen, kippt irgendwo schon wieder etwas. So ist das Leben, und genau deshalb brauchen wir immer wieder Momente zum Nachjustieren.
In der Yogapraxis zeigt sich das sehr konkret. Wer schon einmal im Halbmond stand, weiß: Der Blick steuert die Balance. Der Atem hält sie. Und wenn beides unruhig wird, wird auch die Haltung instabil. Und wenn dann auch noch die Körperspannung fehlt, trägt das Standbein die Haltung nicht.
In Balancehaltungen merken wir schnell, dass vieles zusammenspielen muss:
Konzentration, um präsent zu bleiben
Kraft, um den Körper zu stabilisieren
Beweglichkeit, um in die Haltung hineinzufinden
Und eine gewisse mentale Gelassenheit, um auch das Wackeln zuzulassen
Viele von uns neigen zur Beweglichkeit – aber was ist mit Kraft?
Viele Menschen kommen über ihre Beweglichkeit ins Yoga – das Dehnen, das Hineinschmelzen in Haltungen, das Loslassen. Besonders Frauen fühlen sich in diesem Teil der Praxis oft schnell zu Hause, weil sie von Natur aus häufig mehr Flexibilität mitbringen.
Was dabei aber leicht zu kurz kommt, ist das Thema Kraft. Vielleicht, weil es herausfordernder ist. Vielleicht, weil es im Yoga oft weniger sichtbar geübt wird. Oder einfach, weil der Fokus schnell auf dem Dehnen liegt.
Dabei brauchen wir beides. Beweglichkeit allein reicht nicht. Ohne Kraft können wir Haltungen nicht stabil halten. Wir hängen buchstäblich durch – körperlich und manchmal auch innerlich.
Und Kraft ist nicht nur etwas für die Muskeln. Sie hilft uns auch, dranzubleiben, wenn’s anstrengend wird. Klar zu bleiben unter Druck. Und bei uns zu bleiben, wenn es im Außen laut wird.
Diese Art von Kraft braucht es nicht nur in fordernden Haltungen wie dem Tänzer oder Krieger III, sondern schon in den Grundlagen:
den Bauch wirklich aktivieren, wenn wir in den Baum gehen
den Po bewusst anspannen, wenn wir das Becken ausrichten
die Fußmuskulatur nutzen, statt einfach nur irgendwie das Gleichgewicht zu halten.
Es sind oft genau diese kleinen, bewussten Muskelaktivierungen, die aus einer Haltung echte Stabilität machen.
Yoga darf weich sein – aber eben auch kraftvoll.
Wie bauen wir im Yoga eigentlich Kraft auf?
Yoga ist kein klassisches Krafttraining und auch nicht auf sichtbaren Muskelaufbau ausgelegt, wie zum Beispiel das Training mit Gewichten. Aber natürlich arbeiten wir trotzdem an Kraft. Nur eben auf eine andere, oft subtilere Art und Weise.
Viele Haltungen fordern den Körper durch das eigene Körpergewicht, durch Halten, durch die bewusste Muskelaktivierung und durch das Zusammenspiel mit dem Atem. So entsteht funktionale Kraft, nicht unbedingt sichtbar in Form großer Muskelmasse, aber spürbar im Körpergefühl. Wenn du dein Standbein stabiler halten kannst, der Bauch mitarbeitet oder du deine Schultern bewusster führst, dann ist das echte Kraft. Und genau diese Basis brauchen wir – im Yoga, im Alltag und auch in anderen sportlichen Aktivitäten.
Was Yoga dabei besonders macht: Es stärkt nicht nur Muskeln, sondern auch Körperspannung, Koordination und die Fähigkeit, einzelne Muskelgruppen gezielt anzusteuern. Und ja, auch Muskelaufbau kann passieren. Gerade in Bereichen wie Rücken, Schultern, Beine oder Core (deine Mitte) verändert sich mit regelmäßiger Praxis spürbar etwas. Nur eben auf eine andere Art als im Fitnessstudio.
Wer gezielt Muskelmasse aufbauen möchte, wird mit ergänzendem Krafttraining schneller Fortschritte sehen, aber genau da kann Yoga ein starker Begleiter sein: Es hilft, den Körper besser zu spüren, Bewegungen sauberer auszuführen und langfristig gesünder zu trainieren.
Kraft ist nicht gleich Kraft. Und Yoga ist keine Muckibude – aber ein ziemlich guter Ort, um zu lernen, wie Kraft sich anfühlen darf.
Balance im Alltag – wie die Praxis auf der Matte uns stärkt
Was wir auf der Matte lernen, begleitet uns oft über die Yogastunde hinaus. Denn wie wir mit einem Wackeln in der Haltung umgehen, sagt viel darüber aus, wie wir mit Unsicherheit im Leben umgehen. Wenn wir lernen, ruhig weiter zu atmen, auch wenn’s kurz wackelt. Wenn wir lernen, loszulassen, statt uns zu verspannen. Wenn wir merken: Ich kann mich ausrichten, neu aufbauen, wieder einsteigen. Dann stärkt das auch unser Selbstvertrauen für Situationen abseits der Yogamatte.
Balance im Alltag bedeutet nicht, dass immer alles im Gleichgewicht ist. Es heißt vielmehr:
Wahrnehmen, wenn etwas kippt
Kleine Korrekturen vornehmen, wenn notwendig
Raum schaffen für das, was gerade wichtig ist
Und vor allem: mit uns selbst freundlich bleiben
Was du aus deiner Balancepraxis mitnehmen kannst
Wenn du das nächste Mal in einer Balancehaltung wackelst oder umfällst, nimm es als Einladung: Wie reagierst du auf dieses kleine „Scheitern“? Ärgerst du dich? Versuchst du es schon fast verbissen noch einmal? Oder kannst du darüber schmunzeln und einfach wieder anfangen?
Balance ist auch ein Spiegel. Sie zeigt uns, wie wir mit Instabilität umgehen, nicht nur im Körper, sondern auch innerlich. Im Yoga spielt dabei das Prinzip von Sthira und Sukha eine wichtige Rolle: Stabilität und Leichtigkeit. Beides soll in einer Haltung (und im Leben) gleichzeitig spürbar sein. Das bedeutet: Ich darf stehen, mit Kraft und Klarheit, und ich darf atmen, loslassen, weich bleiben. Nicht entweder oder. Sondern beides zusammen. Die beiden Begriffe stammen aus dem Yoga Sutra von Patanjali, einem der zentralen philosophischen Texte im Yoga.
Wenn du das vertiefen willst, probiere mal diese kleine Übung:
Stell dich in den Krieger II. Spür deine Füße fest am Boden. Aktiviere deine Beine, zieh den Bauchnabel sanft zur Wirbelsäule. Heb die Arme, aber halte die Schultern entspannt. Bleib hier – und beobachte, wie sich Kraft und Weichheit gleichzeitig zeigen dürfen. Atme ruhig. Spür, was da ist.
Vielleicht ist das die eigentliche Übung hinter all dem: Nicht perfekt zu stehen. Sondern immer wieder zu justieren. Zu spüren. Und neu auszurichten. In meiner aktuellen Yogastunde widmen wir uns genau diesem Thema: Balance. Mit Fokus auf kraftvolle Standhaltungen, bewusste Ausrichtung, und alles, was uns in unserer Mitte stärkt.
Ich freu mich, wenn du dabei bist.
🧡
Sarah



