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Atem als Anker – Warum Atmen mehr ist als Luft holen

Wenn alles zu viel wird, wenn die Gedanken kreisen oder sich der Tag zu schnell anfühlt – dann hilft mir eine Sache fast immer: bewusst atmen. Klingt einfach, oder? Schließlich atmen wir ja ständig. Und doch ist da ein riesiger Unterschied zwischen atmen und atmen.


Unser Atem ist mehr als nur die Versorgung mit Sauerstoff. Er ist ein direkter Zugang zu unserem Nervensystem, zu unserem inneren Zustand – und zu dem, was gerade wirklich ist. Für mich ist der Atem ein Anker. Einer, der immer da ist. Einer, den ich überallhin mitnehmen kann.


Der Atem – ein Anker im Alltag

Montagmorgen. Handy, Termine, Kopf voll, Körper irgendwo dazwischen. Kennst du das Gefühl, schon nach dem zweiten Kaffee durch den Tag zu rennen? In der Yogapraxis nutzen wir den Atem bewusst, um uns mit unserem Körper und unserem Inneren zu verbinden. Der Atem kann dir helfen, kurz innezuhalten, auch außerhalb der Matte:


  • Wenn du dich gestresst oder überfordert fühlst.

  • Wenn du emotional aufgewühlt bist.

  • Oder wenn du einfach mal wieder kurz bei dir selbst ankommen möchtest.


Denn: Der Atem ist immer im Hier und Jetzt. Du kannst ihn nicht für später speichern, nicht in der Vergangenheit nachholen. Und genau deshalb kann er dir helfen, dich selbst wieder in diesem Moment zu verankern, ohne etwas „machen“ zu müssen. Ohne App, ohne Equipment, ohne Aufwand.


Was sagt eigentlich die Wissenschaft?

Auch aus wissenschaftlicher Sicht ist klar: Unser Atem beeinflusst weit mehr als nur die Sauerstoffversorgung. Über den sogenannten Vagusnerv ist der Atem direkt mit dem parasympathischen Nervensystem verbunden – also dem Teil unseres Körpers, der für Entspannung, Regeneration und innere Ruhe zuständig ist.


Wenn wir langsam und bewusst atmen, insbesondere mit einer verlängerten Ausatmung, aktivieren wir diesen Ruhemodus. Das Herz schlägt ruhiger, der Blutdruck sinkt, Stresshormone wie Cortisol werden reduziert. Gleichzeitig verbessert sich die sogenannte Herzratenvariabilität, das ist ein wichtiger Indikator für unsere Resilienz und Balance.


Schon wenige Minuten bewusstes Atmen täglich können helfen, Ängste zu lindern, Schlaf zu verbessern und innere Stabilität zu fördern. Der Atem wirkt, nicht nur gefühlt, sondern messbar.


Atmen ist nicht gleich atmen – und nicht alles, was du hörst, stimmt

Rund um das Thema Atmung kursieren auch einige Mythen. Zum Beispiel:

„Tief einatmen beruhigt.“

Tatsächlich ist es nicht die Einatmung, sondern vor allem die laaaaaaangsame, lange Ausatmung, die dein Nervensystem beruhigt. Wenn wir gestresst sind, atmen wir oft flach und schnell, das signalisiert dem Körper: „Achtung, Gefahr!“ Die Lösung? Nicht „mehr Luft“, sondern bewusst langsamer, ruhiger, tiefer atmen – besonders beim Ausatmen.


Noch mehr Faszinierendes über den Atem

Der Atem ist nicht nur nützlich, er ist ein echtes Wunderwerk. Wusstest du zum Beispiel, dass:


  • du etwa 20.000 Atemzüge pro Tag machst – und die allermeisten davon völlig unbewusst?

  • der Atem der einzige unbewusste Körperprozess ist, den wir bewusst steuern können – eine direkte Brücke zwischen Körper und Geist?

  • viele Emotionen sich in der Atemqualität widerspiegeln, noch bevor du sie bewusst wahrnimmst?


Unsere Sprache zeigt das ganz deutlich: „Mir stockt der Atem.“, „Ich kann wieder frei durchatmen.“, „Das hat mir den Atem verschlagen.“ Wenn du deinen Atem veränderst, veränderst du oft auch dein emotionales Erleben, nicht, indem du etwas verdrängst, sondern indem du Raum gibst.


Was die alten Schriften sagen – und was sie heute bedeuten können

Auch in den klassischen Yogaschriften hat der Atem eine zentrale Bedeutung. Er wird als Träger von Prāṇa beschrieben, der Lebensenergie, die alles durchdringt. Wenn wir atmen, nehmen wir nicht nur Luft auf, sondern auch Lebendigkeit. Verbindung. Präsenz.

Im Hatha Yoga Pradipika heißt es:

„Wenn der Atem wandert, wandert auch der Geist. Wenn der Atem zur Ruhe kommt, kommt auch der Geist zur Ruhe.“

Das klingt erstmal poetisch, ist aber ziemlich alltagsnah. Denn genau das erleben wir ja: Wenn der Atem flach, hektisch oder unterbrochen ist, fühlt sich auch der Kopf unruhig an. Wenn wir aber ruhig und gleichmäßig atmen, kommt oft auch der innere Lärm zur Ruhe.

In den Yoga-Sūtras von Patañjali gilt Prāṇāyāma – die bewusste Atemlenkung – als ein Schritt auf dem Weg nach innen. Nicht, um uns zu „optimieren“, sondern um uns zu erinnern:

Wer bin ich, wenn es still wird? Wer bin ich, wenn ich atme – und einfach nur bin?

Diese alten Schriften laden uns ein, den Atem als Brücke zu nutzen. Zwischen Körper und Geist. Zwischen Außen und Innen. Zwischen all dem, was zu tun ist – und dem, was wirklich zählt.


Der Atem im Yoga – mal kraftvoll, mal still

Je nachdem, wie und wo wir Yoga üben, begegnet uns der Atem ganz unterschiedlich.


Im Vinyasa Yoga ist der Atem der Taktgeber der Bewegung. Jede Einatmung hebt dich, jede Ausatmung bringt dich wieder zurück zur Erde. Hier wird der Atem bewusst mit der Bewegung synchronisiert, fast wie ein Tanz. Mit der Einatmung schaffen wir Weite, wachsen, öffnen uns, mit der Ausatmung lassen wir los, ziehen uns zurück, erden uns. Achte mal darauf, welche kleinen Bewegungen der Körper mit der Ein- und Ausatmung macht.


Im Hatha Yoga wird der Atem oft ruhig und bewusst geführt, manchmal gehalten, mit dem Ziel, Körper und Geist zu stabilisieren. Atempausen (Kumbhaka) sind hier ein Weg zur Konzentration und inneren Sammlung.


Im Prāṇāyāma, also der bewussten Atemlenkung, steht der Atem selbst im Mittelpunkt. Hier üben wir z. B.:


  • Nadi Shodhana (Wechselatmung) – zur Ausbalancierung von Körper & Geist

  • Ujjayi – ein sanftes Rauschen im Rachen, das den Atem hörbar macht

  • Kapalabhati – eine aktivierende Atemtechnik mit schnellen Ausatmungen


Im Yin Yoga hingegen ist der Atem eher ein stiller Beobachter. Nichts wird gemacht, nichts verändert, er darf einfach fließen und zeigen, was ist.


Das zeigt:

Der Atem ist vielseitig. Und das Schöne ist: Du darfst ihn genau so nutzen, wie du ihn gerade brauchst.

Mal kraftvoll, mal sanft. Mal geführt, mal frei. Der Atem passt sich dem Leben an – nicht umgekehrt.


Zum Schluss: Du musst nichts „richtig“ machen

Ich vergesse meinen Atem übrigens auch manchmal, nur weil ich Yogaleherin bin, bin ich nicht perfekt und mache immer alles richtig. Auch für mich ist es immer wieder eine wichtige Erinnerung, mehr auf meine Atmung zu achten bzw. meine Atmung bewusst wahrzunehmen.


Aber genau darin liegt das Schöne: Der Atem nimmt es nie übel, wenn wir ihn eine Weile nicht beachtet haben. Er ist einfach da. Geduldig. Und bereit, uns wieder zurückzuholen.


Wenn du das nächste Mal in deinem Tag steckst, zwischen To-do-Listen, E-Mails und all dem, was gleichzeitig passiert, dann versuch es doch mal mit einem einzigen, bewussten Atemzug. Nicht perfekt. Nur bewusst. Nur einen Moment lang. Und vielleicht wirst du spüren: Genau hier bist du. Und genau das reicht.


Die 1-Minute-Atempause


  1. Setze oder stelle dich bequem hin. Spüre den Boden unter deinen Füßen oder das Gewicht deines Körpers auf dem Stuhl.

  2. Lege eine Hand auf deinen Bauch, wenn du magst. Das hilft dir, den Atem besser zu spüren.

  3. Atme bewusst durch die Nase ein, ohne zu forcieren, einfach in deinem Tempo. Zähle dabei innerlich: eins – zwei – drei – vier.

  4. Dann atme durch die Nase oder den leicht geöffneten Mund aus. Etwas länger als du eingeatmet hast: eins – zwei – drei – vier – fünf – sechs.

  5. Wiederhole das für eine Minute: sanft ein, lang aus. Du kannst dir vorstellen, wie du mit jeder Einatmung Weite schaffst und mit jeder Ausatmung alles loslässt, was du gerade nicht brauchst.


Am Ende der Minute: Lass den Atem wieder fließen, wie er möchte. Nimm wahr, wie du dich jetzt fühlst. Vielleicht ruhiger. Vielleicht klarer. Vielleicht einfach etwas mehr bei dir.

 
 
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